Gesundheitspolitik

Gesetzentwurf zu GKV-Finanzen: Mittelmaß wird zum Standard

16. September 2022

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Clemens Kuhne

Stellen Sie sich vor, Sie haben jahrelang hart für die Olympischen Spiele trainiert – härter als alle anderen Ihrer Wettbewerber weltweit. Das zahlt sich aus. Beim entscheidenden 100-Meter-Lauf haben Sie die Nase vorn. Die Freude ist groß, alle Anstrengungen scheinen sich gelohnt zu haben. Doch am Ende bekommen Sie nur die Silbermedaille, genauso wie Ihr unterlegener Konkurrent. Warum sollten Sie sich beim nächsten Mal noch anstrengen, wenn es doch auch mit weniger Aufwand geht? Sie stellen fest: Die beste Leistung zählt nicht mehr. Übertragen auf den Gesundheitssektor sehen wir beim Gesetzentwurf zu den GKV-Finanzen ein ähnliches Bild.

Worum geht es? 17 Milliarden Euro – so hoch soll das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im kommenden Jahr ausfallen. Diese Lücke zeigt: der Reformbedarf ist groß. Umso größer ist die Enttäuschung über den Kabinettsbeschluss für das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Richtig ist: Wir können uns das Defizit nicht einfach wegwünschen. Aber statt grundlegender Strukturreformen sehen wir dort notdürftige Flickschusterei: Auf der einen Seite sollen die Versicherten umfassend mehrbelastet werden – und das in der aktuellen Inflationslage. Was für ein Widerspruch mit Blick auf die aktuell geschnürten Entlastungspakete. Auf der anderen Seite werden Richtung Wirtschaft alte Reflexe bedient. Pharma-Unternehmen, die schon heute durch Rabatte und Abschläge einen jährlichen Beitrag in Höhe von 21 Mrd. Euro zur Stabilisierung der GKV-Finanzen leisten, sollen darüber hinaus noch zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Und das, obwohl die Arzneimittelausgaben seit einem Jahrzehnt stabil bei 16% des GKV-Gesamtbudgets liegen. Von einer Preisentwicklung, die das GKV-Budget belastet, kann also keine Rede sein.

Unser Gesundheitssystem hat eine volkswirtschaftliche Dimension. Dabei sind forschende Pharma-Unternehmen und BioTechs eine Schlüsselindustrie in Deutschland. Ist diese Industrie hierzulande wirtschaftlich erfolgreich, wie zuletzt bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19, sprudeln Steuereinnahmen, und sorgt das für gut bezahlte und hochqualifizierte Arbeitsplätze. Zudem beflügelt es weitere Unternehmen in der Vorproduktion oder in anderen Branchen, wie dem Maschinen- und Anlagenbau. Andersherum zeigt sich eine unmittelbare negative Auswirkung, wenn in das sorgsam austarierte System eingegriffen wird. Jeder Euro an zusätzlichen Rabatten für Hersteller führt zu zwei bis drei Euro Schaden in Form von Einkommensverlusten oder Minderinvestitionen in der Gesamtwirtschaft. Kurzum: Sparen kann teuer sein, denn Innovationen brauchen Wertschätzung.

Dann entfalten sie eine gesamtgesellschaftlich positive Wirkung – bei Gesundheit und Wohlstand. Um im Bild des Olympiasiegers zu bleiben: Nur durch hartes Training, das sich am Ende auch auszahlt, entstehen Spitzenleistungen.

Höhere Herstellerrabatte und AMNOG-Anpassung: Förderung von Mittelmaß

Werden wir konkret. Kurzfristige Sparmaßnahmen dürfen nicht die Axt an das Prinzip der nutzenbasierten Preisverhandlungen legen. Dieses Verfahren wurde mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (kurz AMNOG) vor über zehn Jahren eingeführt und hat sich bewährt. Dieser Ordnungsrahmen gewährleistet die Wirtschaftlichkeit einer Versorgung auf dem neuesten Stand des medizinischen Wissens. Das findet auch international zu Recht große Anerkennung. Doch nun soll dieses funktionierende Verfahren ausgehebelt werden: Das erste Jahr der freien Preisbildung, das dazu führt, dass Patient:innen in Deutschland im europäischen Vergleich im Schnitt am schnellsten Zugang zu Innovationen nach deren Zulassung erhalten, soll halbiert werden. Das Preismoratorium, das dafür sorgt, dass Hersteller trotz rasanter Preissteigerungen ihre Preise nicht bzw. nur verspätet anpassen können, soll verlängert werden. Und der Herstellerrabatt auf patentgeschützte Arzneimittel – also die Innovationen im Gesundheitssystem – soll trotz schon üppiger Rabatte und Abschläge von etwa 21 Mrd. Euro im Jahr, noch einmal zusätzlich erhöht werden. Allesamt zusätzliche Belastungen für eine Branche, deren Preisfindung ohnehin schon massiv reguliert ist und die ihren Stellenwert in der anhaltenden Corona-Pandemie eindrücklich unter Beweis stellen konnte.

Jenseits kurzfristiger Sparmaßnahmen stellt das Gesetzesvorhaben im Vorbeigehen zusätzlich ein etabliertes Verfahren für Innovationen und Preisfindung in Frage. In vielen Fällen würde künftig nicht mehr der tatsächliche Nutzen eines Arzneimittels seinen Preis entscheiden. Im Gegenteil: Sparen würde zum Selbstzweck, ohne Rücksicht auf die Folgen für Gesundheit und Wohlstand in Deutschland. Gleich gute Produkte würden unterschiedlich bepreist, das heißt schlechtere Bezahlung für gleiche Leistung. Und überlegene Arzneimittel mit „geringem Zusatznutzen“ oder „nicht quantifizierbarem Zusatznutzen“ würden auf dem Preisniveau der unterlegenen Vergleichstherapie gedeckelt. Das Ganze soll zudem auch noch rückwirkend für bereits geschlossene Verträge gelten. Welchen finanziellen Anreiz für die Weiterentwicklung von Medikamenten bzw. Innovationen gäbe es dann noch? Oder anders: Warum sollte der Olympiasieger in Zukunft noch so hart trainieren, wenn er die hart erkämpfte Goldmedaille plötzlich wieder abgeben soll und in Zukunft den zweiten Platz mit seinem unterlegenen Konkurrenten teilen müsste? Und welche desaströsen Folgen hätte das für die künftige Spitzen-Versorgung der Patient:innen? Klingt alles kompliziert? Ist es auch!

Ausblick: Was muss passieren?

Wir brauchen jetzt politischen Willen und Mut, die langfristigen und strukturellen Lösungen im Gesundheitssystem anzupacken – ohne die Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit zu gefährden. Dafür sollten wir das Gesamtpaket betrachten. Natürlich sehen viele Beteiligte beim AMNOG Verbesserungs- und Anpassungspotentiale. Dabei bleiben aber wichtige Themen ausgeblendet – wie der Einbezug von Evidenz aus der realen Versorgung, eine bessere Planbarkeit von Studien oder die Förderung von innovativen Erstattungsmodellen. Wir brauchen einen fairen und faktenbasierten Austausch aller Beteiligter an einem gemeinsamen Tisch und keine im stillen Kämmerlein des Ministeriums ersonnenen Schnellschüsse. Für diesen Dialog stehen wir gerne bereit!

Klar ist, wir müssen kurzfristig die Finanzierungslücke in den Griff kriegen. Im Koalitionsvertrag steht bereits, wie das gelingen kann – etwa durch kostendeckende ALG-II-Beiträge. Diese und weitere Maßnahmen stehen jedoch nicht im aktuellen Gesetzesvorhaben. Auch daher fände ich es richtig, – zeitlich begrenzt und gerne auch mit einer Frist hinterlegt – das System mit Haushaltsgeldern zu stützen. Wenigstens so lange bis Strukturreformen wirken, die diesen Namen verdienen.

Wir haben alle das gleiche Ziel: Ein leistungsstarkes und bezahlbares Gesundheitssystem, das die beste Versorgung nachhaltig für alle Patient:innen ermöglicht. Gehen wir gemeinsam ins Trainingslager und holen das Beste für das Gesundheitssystem heraus.

Ihr Kontakt

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:

Dr. Clemens Kuhne
Director Policy & Public Health | Leiter MSD hub berlin

+49 30 700 141 650

clemens.kuhne@msd.de